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Ein Interview mit Melanie Gerber – Die Autorin absolvierte den Lehrgang «Literarisches Schreiben». Hier spricht sie mit der Lehrgangsleiterin Viola Rohner, die dieses Interview verfasst hat, über ihr Schreiben und insbesondere über das Schreiben für Kinder und Jugendliche.

Viola Rohner: Dein Schreiben ist sehr vielfältig. Mir fällt aber auf, dass das Thema Abschied und Neuanfang in fast allen deinen Büchern vorkommt ist. Was interessiert dich an diesem Thema? Findest du, es betrifft heutige Kinder ganz besonders?

Melanie Gerber: Wahrscheinlich betrifft es einfach mich ganz besonders und ich schreibe gerne über das, was ich beobachte, was mich beschäftigt und mir nachgeht. Aufgrund der Reaktionen auf meine Texte habe ich aber das Gefühl, dass es auch vielen anderen so geht. Sind Abschiede und Neuanfänge nicht grundsätzlich wiederkehrende Themen in unserem Leben? Und gerade Kinder müssen diese doch viel intensiver erleben, weil ihr Leben noch nicht so lange ist. Da ist ein Umzug wie bei Tims Freund in «Das Jahr, in dem wir schwimmen lernten» ein riesiger Einschnitt, anders als wenn man die Erfahrung von Neuanfängen schon ein paarmal gemacht hat.

‘Im Himmel gibt es Luftballons’ behandelt ein sehr schwieriges Thema: den Tod eines Geschwisters. Hattest du beim Schreiben nie die Angst, der Text könnte für Kinder unzumutbar sein?

Für Kinder nicht. Aus meiner Erfahrung gehen Kinder viel lockerer mit solchen Themen um, als wir oft denken. So geht es auch Nora im Buch. Für sie ist nicht der eigentliche Tod das Hauptthema, sondern der Umgang der Erwachsenen damit. Ich hatte aber Angst beim Schreiben. Es ist immer heikel, wenn man über Erfahrungen schreibt, die man selber nicht gemacht hat. Was, wenn es in Wahrheit gar nicht so ist? Was, wenn sich dadurch jemand verletzt fühlt? Zum Glück habe ich einen Verlag gefunden, der sich getraut hat, das Buch zu veröffentlichen, auch wenn es um den Tod geht. Und zum Glück haben sich betroffene Eltern bei mir gemeldet, die sich in der Geschichte wiedererkannt haben. Und doch gibt es auch Erwachsene, die sich vor dem Thema im Kinderbuch scheuen und mir sagen, dass sie das Buch ihren Kindern nicht zumuten möchten.

In deinem letzten Roman ‘Das Jahr, in dem wir schwimmen lernten’ erlebt ein 11-jähriger Junge wie in seinem Haus eine syrische Flüchtlingsfamilie einzieht und wenig später sein bester Freund wegzieht. Wie bist du bei der Arbeit an diesem Roman vorgegangen? Gab es da Recherchen oder persönliche Erlebnisse mit geflüchteten Menschen?

Am Anfang war ein Hallenbadbesuch. Ich habe dabei beobachtet, wie eine Mutter schwimmen lernte, während ihre drei Kinder am Beckenrand standen und ihr und der Schwimmlehrerin zugeschaut haben. Dieser sehr intime Moment hat mich berührt und die Geschichte darum herum begann in dem Moment sich zu entwickeln. Später habe ich viel recherchiert, sowohl zum Schwimmen als auch zu Fluchtrouten, und habe mich dazu beraten lassen. Der Text wurde von einer jungen Syrerin gegengelesen, was ich sehr wichtig fand. Ihre Hinweise, gerade zum Leben in Syrien, haben mir Sicherheit gegeben. Mit eingeflossen sind auch eigene Erfahrungen, zum Beispiel eine eigene Freundschaft aus der Primarschulzeit, die im Buch zwischen Tims Vater und seinem Freund Blerton spielt, oder Erzählungen meiner Eltern von italienischen Gastarbeiterfamilien. Je mehr ich recherchiert habe, desto mehr hat sich gezeigt, dass sich das Thema durch mein Leben zieht, wie wahrscheinlich bei uns allen. Ich habe mich an die Frauen im Sozialzentrum in Paris erinnert, wo ich Alphabetisierungskurse gab, daran, dass für sie das Essen immer etwas Zentrales war im Kontakt mit uns und untereinander, oder an Freundschaften, Menschen, die mir von ihren eigenen Fluchterfahrungen erzählt haben. Und doch hatte ich immer nur Tims Perspektive, die des Beobachters, weshalb das Buch aus seiner Sicht erzählt ist.

Warum lässt du den Roman mit dem Wegzug des besten Freunds enden? Du brichst damit die Vorgabe des Happy Ends, die an Kinderbücher gestellt wird.

Wird diese Vorgabe an Kinderbücher gestellt? Für mich ist es das glücklichste Ende, das es für Tim und Vincenzo in dem Moment geben kann: ein letzter schöner Sommerabend, eine Erinnerung, die den beiden über den Wegzug hinaus bleiben wird und die Gewissheit, dass sie sich bald wieder sehen. Das bildet doch das Leben ab, eine Momentaufnahme in einem grossen Ganzen. Ich glaube, dass Kinder sich einfach ausdenken, wie es danach weitergeht.

Du schreibst vor allem für Kinder, aber auch für Erwachsene. Was interessiert dich besonders am Schreiben für Kinder? Und inwiefern unterscheidet es sich für dich vom Schreiben für Erwachsene? Gehst du anders vor?

Es fällt mir viel leichter, für Kinder zu schreiben. Ich finde die Lebenswelt von Kindern sehr spannend und habe viele Erinnerungen an mein eigenes Kindsein. Vieles durfte ich als Kind aber nicht ausprobieren und ich hatte nicht das Gefühl, dass meine vielen Fragen Platz in der Welt hatten. Im Kinderbuch darf ich mich an einer gewissen Naivität ausprobieren, die mir in Texten für Erwachsene wahrscheinlich übel genommen würde. Umso spannender, dass ich viele Rückmeldungen von Erwachsenen bekomme, die meine Kinderbücher lesen.

Du schreibst für sehr unterschiedliche Alterskategorien. Deine letzte Veröffentlichung ist ein Bilderbuch für ca. 4-Jährige, ‘Emil Igel – und das ganz grosse Abenteuer’ (Baeschlin 2022), du schreibst aber auch für ältere Kinder und für Jugendliche. Weisst du von Anfang an ganz klar, an welche Alterskategorie du dich richten möchtest? Oder verändert sich das im Verlaufe des Schreibprozesses?

Am liebsten schreibe ich für Kinder ab 8 Jahren. Das ist das Alter, in dem ich selber Geschichten zu schreiben begonnen habe, vielleicht deshalb. Ich habe mir viele Gedanken gemacht und mache mir die auch heute noch. Und ich mag es, dass sich die Figuren diese Gedanken machen dürfen. Ich mag die Wahrnehmung der Kinder, dass sie so viele kleine und grosse Dinge bemerken und dies doch in einer noch begrenzten Welt. Bilderbücher und Texte für Jugendliche sind vor allem aus dem Grund entstanden, dass ich von Verlagsseite angefragt wurde und das gerne ausprobieren wollte.

Das Genre Kinder- und Jugendbuch erlebt zwar einen Aufschwung, d.h. es ist der Teil des Buchmarkts, der am stärksten wächst.  Im Gegensatz zum Erwachsenenbuch wird das Kinderbuch aber auch hierzulande noch immer marginalisiert. Das zeigt sich nicht zuletzt darin, dass es bis vor kurzem keine Literaturförderung dafür in der Schweiz gab. Woran liegt das? Immerhin brachte die Schweiz eines der berühmtesten Kinderbücher hervor: das Heidi.

Mir fällt auf, dass Erwachsene bei Kinderbüchern vor allem an Klassiker von Astrid Lindgren oder Michael Ende denken, vielleicht auch an Klassenlektüren aus der eigenen Schulzeit, zum Beispiel «Die schwarzen Brüder» oder «Die rote Zora». Für die eigenen Kinder würden sie dann gerne genau die Bücher wieder kaufen, die sie selber als Kinder so gemocht haben. Gleichzeitig erscheinen jedes Jahr sehr viele neue Kinderbücher, oft Serien, die, wie auch bei Erwachsenen, gut funktionieren. Und dann gibt es noch die aktuelle Kinder- und Jugendliteratur, die tatsächlich nicht die gleiche Beachtung bekommt, wie das Pendant für Erwachsene. Liegt es daran, dass sie nicht ernsthaft genug sein soll? Dass Kinder nicht ernstzunehmende Kritiker:innen sein sollen? Oder einfach daran, dass es die Erwachsenen sind, die den Markt bestimmen, weil sie die Hersteller:innen und Käufer:innen sind?

Du hast den Lehrgang Literarisches Schreiben 2017/2018 absolviert. Inwiefern hat dir der Lehrgang auf deinem Weg als Autorin geholfen?

Der Lehrgang hat mich befreit. Davor habe ich mich immer wieder im Schreiben versucht und auch Kurzgeschichten auf Französisch veröffentlicht. Ich hatte aber ein Sprachwirrwarr, weil ich einige Jahre in Frankreich gelebt hatte und den Zugang zur deutschen Sprache nicht mehr richtig fand, und ehrlich gesagt auch keine Ahnung hatte, was meine eigene Sprache war. Im Lehrgang habe ich den Zugang dazu gefunden, vor allem über das Ausprobieren und Spielen mit Sprache und Texten. Und plötzlich konnte ich schreiben und hatte Lust, etwas zu erzählen.

Es fällt auf, dass du in kurzer Zeit sehr viele Bücher publiziert hast. Das ist ungewöhnlich. Waren diese Texte alle seit langem in deiner Schublade und du hast sie einfach nie jemandem gezeigt?

Es sind alles neue Texte. «Im Himmel gibt es Luftballons» habe ich einen Monat nach Abschluss des Lehrganges begonnen, seither sind viele Texte entstanden. Ich hatte keine Lust, alte Texte aus der Schublade zu holen, sondern zu sehen, was sich alles in mir drin befindet. Nachdem die ersten Texte veröffentlicht waren und es zu Nominierungen kam, kam plötzlich eine ungewohnte Aufmerksamkeit, Anfragen von Verlagen für neue Texte. Damit verbunden ist auch ein grosser Druck, mit dem ich noch nicht so gut umgehen kann. Ich sehne mich danach, einfach wieder eigene Texte ohne Vorgaben zu schreiben, denn das ist für mich das Schönste am Schreibprozess.

Welchen Rat würdest du Leuten geben, die gerne ein erstes Kinder- oder Jugendbuch schreiben möchten?

Das ist ganz einfach: viele Kinder- und Jugendbücher lesen. In meinem Bücherregal herrschen diese Genres vor, ich lese viele Neuerscheinungen und entdecke immer wieder tolle Autor:innen und Erzählweisen, die mich inspirieren. Und natürlich möchten Verlage gerne, dass man für eine bestimmte Zielgruppe schreibt und sich an ihr Programm anpasst. Das findet man ebenfalls am besten heraus, indem man viel liest und sich in Buchhandlungen und Bibliotheken umschaut.

Melanie Gerber, *1985, schreibt für Kinder und Erwachsene. Sie studierte in Paris Literatur und besuchte in Zürich einen Bildungsgang in Literarischem Schreiben. Gemeinsam mit vier Autorinnen und einer Musikerin ist sie unter dem Namen «Liederatour» in der Schweiz unterwegs. Heute lebt und arbeitet sie als freischaffende Autorin und Lektorin im Zürcher Oberland. «Im Himmel gibt es Luftballons» (Baeschlin 2020) wurde für den Paul-Maar-Preis nominiert und «Auf dem Mond ist alles gut» (Zebrafink 2021) ist auf der Empfehlungsliste des Evangelischen Buchpreises 2022.